Ich möchte zunächst anregen, zwei Artikel zu lesen, die ich in den letzten Tagen gelesen habe. Wie Firmen ihre Spitzenkräfte verbrennen ist der erste. Und der zweite trägt den Titel 80 Prozent aller Lebensläufe sind Schrott. Lasst diese beiden texte Mal einfach auf euch wirken und erwartet erstmal gar nichts. Versucht keine Zusammenhänge zwischen den beiden Artikeln zu sehen, was nicht ganz möglich ist, schließlich setze ich sie ja in genau einen solchen.

Ich wüsste nur gerne, ob ihr nicht auch seht, wie bescheuert und vor allem Schizophren eigentlich das Bild seiner Zukunft für einen jungen Menschen sein muss, der bald in den Arbeitsmarkt eintreten wird. Die beiden Artikel oben stellen nur einen minimalsten Teil dessen dar, was ich mir mit meinen 26 Jahren so alles an Erwartungen und Risiken meiner eigenen Zukunft anhören musste, ohne in diesem ganzen Gesabbel auch nur einen Hauch dessen zu finden, was mich betrifft, betreffen wird oder betreffen könnte. Anonymes Bukkake trifft es am besten. Noch nie davon gehört? Wikipedia klärt auf:

Bukkake (ぶっかけ, buːˈka:keɪ oder bʊˈkækei) bezeichnet im westlichen Verständnis (s.Etymologie) eine Gruppensexpraktik, bei der mehrere Männer auf eine weitere Person ejakulieren. Dies geschieht meist in Form der Ejakulation ins Gesicht, der Gesichtsbesamung. Quelle Wikipedia.

Seitdem ich zur Schule gehe wird mir ständig von allen möglichen Seiten ins Gesicht gespritzt. Metaphorisch gesehen, natürlich. Alle Welt läd bei jungen Menschen Erwartungen ab, will eigene Fehler vermeidet sehen, nur das Beste und was weiß ich alles. Ich rede jetzt nicht von ödipalen Konflikten, sondern von den vielen Ratschlägen durch jeden, der meint Alter schütze vor Dummheit und deshalb seine Lebensweisheit rausdrücken muss. In my Face. Medial ist das sowieso ein mittlerweile schmerzender Dauerständer geworden, denn wie man dem ersten Artikel entnehmen kann, sind die Wichsvorlagen des Wirtschaftswunders schon soweit verblasst, dass nicht mehr ignoriert werden kann, dass einiges im Argen liegt.

Meinen wir als Gesellschaft wirklich, ständig nur einseitigen Druck ausüben zu können, dem Arbeitnehmer die Frauenrolle des oben zitierten japanischen Pornos per se zuschreiben zu können und dann nicht entweder mit sehr wenig Lust oder sehr gestörten Gestallten rechnen zu müssen? Es scheint so.

Ich meine, nicht alles läuft verkehrt und wir brauchen auch keine Revolution. Aber dass es weder dem Interviewten noch dem Journalisten auffällt, dass es meist zwei Perspektiven zu einer Sache gibt, gibt mir wiederum zu denken. Wenn 80 % aller Lebensläufe Schrott sind, kann man doch mit gleichem Recht auch behaupten, dass 80 % aller Personalererwartungen Schrott sind, oder sehe ich das Falsch? Wahr und wirklich wird sicher keine dieser Aussagen sein, aber darum geht es auch nicht. Leistung ist ja gut, Erwartungen und Druck auch und nicht jeder bricht darunter zusammen. Aber die Einseitigkeit, mit der wir alle einen großen Teil unseres Lebens, die Arbeit, betrachten, erschreckt mich immer wieder aufs Neue.

Ich meine, ich denke auch scharf nach, was ich denn in einem halben Jahr mit meinem Abschluss machen soll. Übrigens Bachelor und Master in Regelstudienzeit, also kommt mir nicht mit Leistung. Aber muss dieser Druck unnatürlich überhöht werden durch kontinuierliches mantrisches Geblubber im Sinne einer alten Fernsehsendung: nur die Leistung zählt? Gibt’s den Pflaume eigentlich noch?

Wie schizo muss denn eine Leistungsgesellschaft sein, die ihre Mitglieder zur Leistung konditionieren muss?

Kommentare

Ohne deiner Grundaussage widersprechen zu wollen: Mit „80 % der Lebensläufe sind Schrott“ meint der Interviewte lediglich, dass 80 % aller Lebensläufe im Sinne von gedruckten Dokumenten, nicht von gelebten Biographien, Schrott sind, und auch nur in der Hinsicht, dass sie nicht transparent werden lassen, was die BewerberIn für die Stelle qualifiziert, sondern zu viel sagen. Die Erwartung von PersonalerInnen, dass Lebensläufe auf die jeweilige Bewerbung zugeschnitten und keine Standard-Kitchen-sink-Dokumente sind, die überall gleich beigelegt werden, halte ich für legitim.

Dass die gedruckten Dokumente gemeint sind, wird ja in dem Artikel klar deutlich. Hätte der Headhunter das andersherum gemeint, wäre mein Artikel sicher bezogener und drastischer ausgefallen. Zudem, geht es mir auch nicht, einzelne Praxen anzuprangern. Wie oft hast du schon „gute“ Ratschläge verteilt, wie oft habe ich das schon? Mit ziemlicher Sicherheit ausgesprochen häufig. Und über Legitimität will ich auch gar nicht reden, das würde in eine Systemkritik ausarten, für die hier sicher nicht der richtige Ort ist. Das passt besser ins Bolschoi bei einer ordentlichen Stalinorgel;)Mit den meisten Einzelpraxen bin ich mehr als nur einverstanden, freue mich sogar meist über die guten Ratschläge, die einen ja „weiter“ bringen. Auch halte ich Druck und Erwartungen für eine Gesellschaft unerlässlich und bin auch gegen das Pathologisieren jeglichen Scheiters als psychologisches Trauma. Aber ich habe dennoch nicht selten das Gefühl, dass gut Gemeintes nicht allzuselten mehr Rechtfertigung der eigenen Lebensweise denn wirkliche Hilfe ist. Und wenn Hilfe Druck erzeugt, Erwartungen nur noch Erfolge und Resultate erreichen wollen, dann ist etwas im argen, dann fühle ich mich nicht besonders wohl.Auch das ist nicht besonders konkret zu verstehen, es gibt keinen Auslöser besonderer Art in letzter Zeit dafür, sondern es ist Ausdruck einer Grundstimmung, die ich schon lange verspüre. Und dir scheint es ja ähnlich zu gehen, wie ich deinem Kommentar entnehme.Mich würde auch die Meinung oder das Gefühl der anderen Leser interessieren, vielleicht interpretiere ich auch zu viel von mir in „die“ Gesellschaft herein.