Ich zu sein ist in Zeiten der fortschreitenden Reflexion auf selbes keine einfache Sache mehr. Durch Beschreibung entsteht Erwartung. Es reicht nicht mehr nach \u00fcberstandener Reifepr\u00fcfung „der Starke“, „der Mutige“ oder „der Kluge“ genannt zu werden und somit zu sein. Vielleicht hat dies nie gereicht und meine Vorstellungen von dem Ich fr\u00fcherer Tage sind zu sehr von Karl May und Star Wars Romanen gepr\u00e4gt.<\/p>\n
Jedenfalls wird mir jeden Fr\u00fchling, wenn der graue Schleiher des auf sich gesinnten und darin gefangenen Verstandes durch die ersten kr\u00e4ftigen Sonnenstrahlen verscheucht wird, bewusst, wie unbewusst doch das vonstatten geht, was ich „Ich“ zu nennen versuche, wann immer mir klare Gedanken zuteil werden. Reflexion nach Ma\u00df war einst im goldenen Zeitalter die Zusammenf\u00fchrung zweier Tugenden: Ma\u00df zu halten und klug zu handeln.<\/p>\n
Doch heute ist das Selbst nicht mehr an solche Tugenden gebunden, f\u00fchren sie doch in einem System, das die Tugendhaftigkeit st\u00e4ndig bestraft, zum Widerspruch mit sich selbst. Klugheit wird von der Habgier eingenommen und das Ma\u00df wird durch den Konsum ersetzt. Widerspr\u00fcche werden mit niedlichen Umschreibungen tief im Selbst verankert: das Leben ist kein Ponyhof und erst recht keine Polly Pocket Insel.<\/p>\n
Leckt mich am Arsch. Das Leben ist noch immer existenziell bedrohend, ganz egal ob mein Toaster jetzt auch Internetzugang hat und mein K\u00fchlschrank durch diesen immer mit dem bef\u00fcllt werden wird, was ich eben gerne nach Ansicht eines Algorithmus mag. Unser Krieg ist kein spiritueller, unser Krieg ist gegen uns selbst gerichtet. St\u00e4ndig m\u00fcssen wir uns selbst optimieren, um in etwa dem zu entsprechen, wie wir uns selbst vorstellen. „Werde, der du bist“ ist der nihilistische Fluch einer Reflexionsform, die nicht auf sich sondern gegen sich selbst gerichtet ist. Prozac und andere Psychodrogen sind die chirurgischen Eingriffe ins Selbst, die Botoxspritzen f\u00fcr den Charakter, der einwirft bis er aufgibt und endlich der ist, der es schon immer sein wollte. Nur Chuck Norris bleibt er selbst.<\/p>\n
Modern ist die Zerst\u00f6rung des Ich durch die Konfrontation seines Selbst mit der materiellen sowie psychologischen Wirklichkeit. Die pragmatische Freiheit wird dem Selbst st\u00e4ndig durch Konsumanreiz und Verhei\u00dfung des Paradieses auf Erden korumpiert. Die Aufkl\u00e4rung ist zur Hure ihrer eigenen Ideale geworden. Die Welt geht vor die Hunde, wie sie es immer schon getan hat, nur sind wir auf einmal schuld daran. Folgen sind aber nicht eine Reflexion vom Selbst weg hin zu einer handlungsf\u00e4higen Gesellschaft, sondern gr\u00fcner Ablasshandel mit Biojoghurt und Bionade. Blo\u00df keine Lebensqualit\u00e4t verlieren, sonst ist es aus mit uns.<\/p>\n
Mich kotzt mein Selbst als Teil dieser Gesellschaft so sehr an, dass ich es ausbrechen m\u00f6chte, um als naiver Idealist wiedergeboren werden zu k\u00f6nnen, der Yoga ebensowenig abgeneigt ist, wie dem Gang zur Wahl alle vier Jahre um sich einzubringen in eine Welt, die unser aller Verantwortung braucht, weil sie sonst vor die Hunde geht, wie sonst auch. Nur anders.<\/p>\n
Ein anderer sein zu wollen ist das, was das Selbst in diesen Zeiten wohl am besten beschreibt und was bitte bleibt vom Ich, wenn es nicht mehr sein m\u00f6chte. Uhren, Schmuck, das richtige Handy und der verdammt nochmal prestigetr\u00e4chtige Job haben vernichtet, was vielleicht nie vorhanden war. \u00dcber Generationen hinweg hat sich unsere Gesellschaft in der Bed\u00fcrfnisspyramide nach oben gearbeitet und das nur, um festzustellen, dass ganz oben das Nichts wartet, dass nicht nur intellektuell nichtet, sondern uns anschreit, was wir verfickt nochmal kaufen sollen. Dass unfreiwillig komische Typen dann „sein statt haben“ br\u00fcllen, geht unter in der Werbung, die Bretter unserer Welt bedeutet.<\/p>\n
Wenn irgendwann einmal das L\u00fcgenverbot nicht selbst nur L\u00fcge war, so wird es in unserer Zeit ad absurdum gef\u00fchrt durch Versprechen, die gar nicht einzuhalten sind, aber demokratisch legitimiert sind. Dem irgendetwas entgenzuwerfen ist nur dem Sarkastiker m\u00f6glich, der sich selbst schon so oft ausgekotzt hat, dass der zwischen sich und seinem Erbrochenem gar keinen Unterschied mehr machen kann und der sich selbst nur noch durch die krative Art und Weise seiner derben Ausdrucksweise bejahen kann, weil da die regulativen Ideen nicht ganz versagen.<\/p>\n
Die welt ist nicht schei\u00dfe, sondern das Ich, dass sich selbst pervertierend st\u00e4ndig das Gegenteil behauptet. Wir brauchen eine neue Wende, und schei\u00df auf Kopernikus, aber keiner wei\u00df, wo er hingehen soll, wenn er sich st\u00e4ndig um die eigene Achse dreht, nur um auf keinen Fall die Titten in der Bild oder den Tatort am Sonntag zu verpassen.<\/p>\n
Wir sind uns zu nah gekommen, als dass wir noch etwas mit uns anfangen k\u00f6nnten. Es ist wohl zeit f\u00fcr die atomare Apokalypse, ich habe keine Lust auf die n\u00e4chste Sinnflut zu warten.<\/p>\n
Wer jetzt meint sich beim Lesen einem Kulturpessimisten aufgesessen zu sein, irrt zwar nicht gewaltig, hat aber auch nicht die Radikalit\u00e4t eines Ichs, dass sich selbst nicht mehr wahrnimmt verstanden, denn gut ist dann gar nichts mehr.<\/p>\n
Mal angenommen, dass Ich war mal Katalysator des Selbsts, dann ist es nun nicht vielmehr als seine Feinstaubplakette. Ein Aufkleber. Plakativ und doch sinnlos, eingef\u00fchrt mit guten Gr\u00fcnden, aufgel\u00f6st durch diese selbst.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"
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