Jeder kennt sie, aber nicht jeder kann mit ihnen umgehen. Gemeint sind Beispiele in Diskussionen, die darauf abzielen den Diskussionspartner durch Erfahrungen zu überzeugen. Zwei Beispiele:

Beispiel 1: Also Diskussionspartner Eins behauptet, dass alle schwarzen Enten braune Augen haben. Diskussionspartner Zwei antwortet darauf, dass seine Tante ihm aber letzten Sonntag beim Kirschkuchenessen mit halbvollem Mund erzählt habe, dass sie sich jetzt eine schwarze Ente gekauft habe, die eigentlich Weihnachten in den Ofen wandern sollte. Nur habe es keiner übers Herz gebracht, sie zu töten. Die schwarze Ente habe jedes Mal mit ihren tief blauen Augen so traurig geschaut.

Beispiel 2: Diskussionspartner Eins behauptet, dass der Sozialabbau in Deutschland immer weiter voranschreitet und gefährliche Ausmaße annimmt. Diskussionspartner Zwei hält dagegen, dass seine Oma ihm von ihrem Nachbarn erzählt habe, der vor einem Jahr noch arbeitslos und so arm dran gewesen sei, dass sie ihn immer Mal wieder zu ihrer herrlichen Kartoffelsuppe eingeladen hätte, die der Nachbar auch immer dankbar angenommen habe. Jetzt gehe es ihm aber viel besser, er habe über diese neue Arbeitsagentur einen Job gefunden und habe jetzt leider gar keine Zeit mehr für ihre köstliche Kartoffelsuppe.

Auch wenn die beiden Beispiele sehr ähnlich klingen und vom ungeübten Diskutanten in einen Topf geschmissen werden können, sind sie doch grundverschieden. Es gibt Beispiele, die argumentativen Charakter haben und Beispiele, die nichts zum qualitativen Verlauf einer Diskussion, sondern höchstens zu dessen Unterhaltungswert beitragen.

In Beispiel 1 bringt Diskussionspartner Zwei mit seiner Geschichte der Tante einen starken Einwand in die Diskussion. Denn die Behauptung, dass alle schwarzen Enten braune Augen haben, ist empirisch widerlegbar. Diskussionspartner Zwei strebt mit seinem Beispiel der blauäugigen Ente den Gegenbeweis der Behauptung an. Die Aussage von Diskussionspartner Eins verliert also empirisch ihre Grundlage. Wenn es eine schwarze Ente ohne braune Augen gibt, dann ist die Aussage falsch, dass alle schwarzen Enten braune Augen haben. Diskussionspartner Eins kann jetzt nur noch das Beispiel anfechten und fordern, dass ihm diese Ente mit blauen Augen vorgeführt werden solle. Sonst muss er seine Aussage zurückzieht. Sollte das Beispiel aber richtig sein und ihm die Ente mit blauen Augen vorgeführt werden, hätte er keinerlei Grundlage mehr, seine Behauptung aufrecht zu erhalten. Das Beispiel von Diskussionspartner Zwei war in Beispiel 1 ein legitimer Diskussionsbeitrag.

Gehen wir zu Beispiel 2, was scheinbar ähnlich abläuft. Eine Behauptung soll durch ein Gegenbeispiel widerlegt werden. Doch in diesem Fall ist die Behauptung keine All-Aussage und hat somit ganz anderen Charakter. Die Aussage, dass der „Sozialabbau in Deutschland immer weiter voranschreitet und gefährliche Ausmaße annimmt“ ist eine Tendenzaussage, die keineswegs auf alle Menschen in Deutschland zutreffen muss. Sie will, begründet oder unbegründet, nicht, wie bei den Enten, sagen, dass alle Menschen in Deutschland vom Sozialabbau betroffen sind und die Lage deshalb erschreckend ist. Der Sozialabbau betrifft nicht alle Menschen. Allerdings war Diskussionspartner Zwei so schlau, einen Menschen zum Beispiel zu machen, der vom Sozialabbau betroffen ist bzw. war. Doch auch jetzt wirkt dieses Beispiel nicht widerlegend, da der Sozialabbau eine strukturelle Bezeichnung ist, die statistisch nachgewiesen wird. Es bleibt eine Tendenzaussage, selbst wenn man die Zielgruppe, also die Betroffenen des Sozialabbaus, einschränkt. Diskussionspartner Zwei hat also die Struktur der Behauptung ignoriert oder nicht verstanden, wenn er versucht sie, wie im Beispiel 1, mit einer singulären Erfahrung zu widerlegen.

Beispiele sind als Argumente in Diskussionen nur sehr bedingt nützlich. Ich rede hier nicht von verdeutlichenden Beispielen, die können gut gewählt, oder zu weit von dem zu zeigenden Punkt entfernt sein. Aber ein Beispiel als Argument, eine Erfahrung als Argument kann nur All-Aussagen widerlegen. Tendenzielle oder statistische Behauptungen bleiben davon unberührt, auch wenn sie sicherlich dafür sorgen können, dass der Behauptende seine Meinung zurückzieht. Das sind aber psychologische Aspekte und sollten in einer rational geführten Diskussion keine Rolle spielen.

Angeregt wurde ich durch den nicht sonderlich guten Artikel „Der Betroffene hat immer Recht. Oder?“ der leider auf ähnlich ungenaue Art und Weise versucht auf das Problem des Beispiels in Anne Wills neuer Polittalkshow aufmerksam zu machen. In dieser Talkshow, ehemals Sabine Christiansens Sendeplatz, werden „Betroffene“ z.B. des Sozialabbaus den gut situierten Ministern und Funktionären vorgeführt, um diesen doch mal das „echte“ Leben entgegenzuhalten. Dass dies blanker Humbug ist und die Talkshow wohl ihr letztes Quentchen Qualität verliert, denke ich zwar auch, aber der Autor des Artikels argumentiert leider ähnlich:

„Die betroffene Frau, in jeder Hinsicht die Repräsentantin einer überschaubaren Minderheit, stand plötzlich für den Gesamtzustand Deutschlands mitten im konjunkturellen Aufschwung.“

Das soll dem Leser wohl zeigen, wie falsch die Auswahl für die Sendung gewesen sei. Doch der argumentative Bumerang trifft ihn noch am Hinterkopf. Natürlich ist der „Betroffene“ als Argument fehl am Platze, aber nicht, weil er statistisch zu einer Minderheit gehört, sondern weil er keinen argumentativen Charakter hat. Es ist egal ob der „Betroffene“ zur Mehr- oder Minderheit gehört. Die Struktur der Diskussion lässt keine singuläre Erfahrung als Argument zu, ganz egal woher die singuläre Erfahrung kommt. Autsch.

// Das Foto „Black and White“ ist von Ian Wilson unter CC-Lizenz veröffentlicht.

Kommentare

Rein rationale Diskussionen lese ich lieber in Gestalt eines gut recherchierten Zeitungsartikels, der die Infos aufbereitet und dann verschiedene Bewertungen vorführt.
Denn Menschen sind eben nicht „rein rational“ – und 90% aller spontan entstehenden „Sach-Gespräche“ haben ganz andere Motive als einen Sachverhalt zu klären.

In einer Talk-„SHOW“ will ich auch nicht hauptsächlich Infos, sondern die Personen, ihren Charakter, ihr spontanes Reagieren angesichts verschiedenster Herausforderungen erleben. Die Konfrontation mit „Betroffenen“ kann da durchaus passen!

Ich würde dir ja zustimmen Claudia, wenn diese Talkshow nicht die politische Meinung von ungemein vielen Menschen direkter beeinflusst als die Politik selbst. Anne Will, so wie vor ihr Christiansen, veranstaltet dort einen wöchentlichen Wahlkampf und nicht nur eine lustige Unterhaltungssendung, wo sich jeder mal blamieren darf.

Und bei der Politik hört für mich der Spaß auf, wenn Polemik, Tricks und Propaganda die rationale Diskussion ablösen. Ich will nicht übertreiben, denn diese Sendung wird und nicht ins Unheil stürzen, aber bedenklich finde ich das schon. Vor allem wenn das auch noch von denn Öffentlichen kommt, die einen Informationsauftrag haben und immer auf ihre angebliche Qualität pochen.

Talkshow schön und gut, rational muss nicht immer sein und Wahlkampf kann sicher auch Spaß machen dürfen. Aber Diskussionen über politisch wichtige Themen mit Gefühlsduselei und polemischen Tricks zu würzen, geht mir jedenfalls arg gegen den Strich.