Eine Frage zum Einstieg: Wenn der Tag anbricht, zerbricht dann der Tag, oder die Nacht?
Wir haben ein Wort für den Übergang vom Tag zur Nacht, den Sonnenuntergang, ein romantisch verspieltes und gern genutztes Sinnbild des Aufbruchs in die Stille der Nacht. Wir haben auch ein Wort für den Sonnenaufgang, Symbol des Aufbruchs und des Neuanfangs. Wir haben aber keine Worte für die Momente vor diesen Brüchen.
Der Bruch der Nacht mit dem Tag wird meist übersehen, über-lebt. Der Alltag zieht uns weiter und lässt uns höchstens dem Sonnenuntergang beiwohnen, als bisweilen allzu malerisches Naturkunstwerk. Denn dieses Schauspiel ist nicht der Bruch, es ist ein Überspielen. Ebenso verhält es sich mit dem Bruch der Nacht hin zum Tage. Nicht die mystisch aufgeladene Morgenröte, für die es sich aufzustehen lohnt, bricht mit der Nacht, sondern das aufgeladene Schweigen wenn der Tag noch nicht beginnen will und die Nacht schon ihre Magie verloren hat.
Morgenröte und Sonnenuntergang sind vom grau geleitet, so farbenfroh sie uns Betrachter auch in ihren Bann zu ziehen versuchen. Sie sind uns Abwechslung zum grauen Alltag, zum grauen Licht des Tagesanbruchs. Sie sind Konsum und dem Kunstwerk entgegengesetzt. Der Bruch ist die eigentliche Lücke des Schauspiels der Natur. Der Bruch muss nicht verführen durch Farbenspiel und Romantik. Der Bruch braucht weder Vogelgezwitscher noch einen Strand mit breitem Horizont. Der Bruch will verstanden werden, ohne verstanden zu werden.
Die Lücke, die sich jeden Tag auftut zwischen der Zeit in der wir funktionieren und arbeiten sollen und der Zeit in der wir funktionieren und Schlafen sollen ist das Kunstwerk meines Lebens.
Diese Lücke füllt meinen Tag, an dem ich Schlafe, weil ich in der Nacht gearbeitet habe, füllt meine Nacht, in der ich lese, weil auch das Arbeit ist. Doch was ich auch tue, ich warte auf die Lücke, den Bruch, das Brechen, das kein göttlicher Künstler für mich erschuf, sondern immer wieder aufs neue hervorgerufen wird, von mir. Dem einzigen Künstler, den ich nie werde verstehen können.
Oder mit den Worten eines Philosophen: der Bruch des Lebens widerfährt mir durch mein Erfahren des in der Welt-seins dieses Bruches und mir selbst. Die Lücke erfüllt so nicht nur das Kunstwerk meines Lebens, sondern schluckt ebenso das Rauschen, das alles begleitet.
Gedanken sind die Lücke des Lebens – das Kunstwerk im Kunstwerk
Kommentare
[…] Kunst zu schreiben ist immer noch das schwierigste und ich weiß mit Beendigung des Textes nicht, ob irgendjemand […]
Meiner Ansicht nach einer deiner besten Artikel (neben „Betriebswirtschaftlehre ist eine Ausbildung“ versteht sich) und das meine ich nicht nur weil er sich auf meine Hausarbeit bezieht. Der Gedanke, dass eine Lücke erfüllen könnte bleibt mir jedoch fremd.
Abschließend hätte ich dann doch noch einen Kritikpunkt den ich loswerden möchte: Du betonst am Ende des Artikels den Selbstbezug, die Privatheit des von dir Geschriebenen, wobei nicht der Selbstbezug störend ist, sondern die Betonung dieses Selbstbezuges unnötig erscheint. Man kann den Artikel ja durchaus als ein literarischen Denkspaziergang durch das persönliche Kunstverständnis verstehen, der sich, trotz seiner Privatheit, nicht in unverständlichen Phrasen verirrt, sondern sich stets an allgemeinverständlicher Metaphorik orientiert. Der Hinweis dass es sich dabei „nur“ um eine persönliche und mithin subjektive Betrachtung von Kunst handelt, rückt den Artikel in ein Licht, in welchem er sich mehr als ein Tagebucheintrag zeigt, anstatt sich dem Publikum als ein literarisch formulierter Gedankengang zum Thema Kunst darzustellen. Der Selbstbezug verunsichert den Leser, denn es klingt für ihn wie ein Zweifel an der Selbstsändigkeit des Artikels, der, so dünkt mich, ganz unangebracht ist, da ich dem Text ohne Übertreibung attestieren würde, dass er gut für sich allein stehen kann ohne dass der Autor sich von ihm und in ihm distanzieren müsste.
Ich finde ebenso den Artikel sehr reizend und stilvoll gestaltet; besonders die erklärte Prätentiösität, die ironisch wieder gebrochen wird um dann doch am Ende fragil da zu stehen und in die Welt zu schauen. Aber welche Welt? Ich finde den Kommentar von Wowik grundsätzlich verfehlt; sein Missverständnis jedoch soll nun fruchtbar gemacht werden um die Schönheit und Idee des Beitrags deutlich zu machen.
Das Missverständnis von Wowik zeigt sich doppelt: Erstens in dem Unverständnis gegenüber dem Gedanken der Erfüllung, die die Lücke leistet und zweitens in seiner Kritik der Bezugnahme auf den Selbstbezug. Der Kommentar von Wowik übersieht die Verschiebung der Bedeutung der Lücke, die bei soeren onze stattfindet, verglichen mit der Bedeutung in Wowiks eigener Arbeit „Die Reinkarnation des Gedankens im Kunstwerk.“ Es wundert mich nicht sonderlich, dass diese Verschiebung von Wowik übersehen wird, denn eben die Verschiebung ist das, was Wowik nicht denken kann. Deshalb versteht er die Lücke bei soeren onze auch nicht, weil diese eben die Verschiebung, der Bruch ist.
Bevor ich nun erkläre was Wowik nicht versteht, soeren onze aber schon, muss ich voraus sagen: Meine Kritik an Wowiks große ambitionierte Arbeit, die ich für sehr interessant und ergiebig halte, wird davon geprägt sein, dass diese Arbeit lang und schwierig ist und ich infolgedessen ihren Inhalt leider ohne die geforderte Gründlichkeit habe behandeln können. Ich schlage vor, dass Leser der Endlosrekursion, die diese Arbeit intensiver gelesen haben, meine Interpretation korrigieren und demnach meine Kritik verschieben.
Warum meint Wowik, dass die Lücke nicht erfüllen kann? Weil er ihren Ort falsch lokalisiert hat und ihren Status falsch identifiziert hat. Dies hängt, glaube ich, wesentlich damit zusammen, dass Wowik auf eine (fundamental-)ontologische Rhetorik und Denkweise rekurriert. Sein Fehler entsteht indem er die Lücke verfestigt und ontologisiert, indem er übersieht, dass sie ein Bruch ist und nicht „das Nichts.“ Deshalb bezeichnet die Lücke bei soeren onze ein Zwischen, das eine Veränderung erfasst. Die Lücke kann nicht in einer Ontologie verstanden werden. Deshalb finden wir die ironische Metaphorik bei soeren onze, die den Tag und die Nacht thematisiert und dabei den (verschönenden) metaphysischen Gebrauch von dem Aufgang und Untergang kritisiert (man denke hier etwa an den Titel „Untergangsprophet“, den Wowik in irgendeiner Debatte zugeschrieben wurde). Das Problem der Metaphysik ist, dass sie die Lücke voraussetzt ohne es zu erkennen. Wowik erkennt sehr wohl die Lücke, aber nicht ihren Grund. Die Lücke liegt in der Struktur des Zeichens und sie ermöglicht das Zeichen. Deshalb erfüllt sie. Inwiefern? Das Zeichen muss eine kontextunabhängige allgemeine Bedeutung haben, damit dieses überhaupt in verschiedenen Kontexten lesbar ist. D.h. das Zeichen muss wiederholt werden können und diese Wiederholbarkeit bedeutet eine gewisse Unabhängigkeit vom Kontext. Nur diese Wiederholbarkeit ist gleichzeitig eine Andersheit. Durch die Wiederholung des Zeichens in verschiedenen Kontexten verschiebt sich die Bedeutung des Zeichens. Diese Verschiebung ist ein Bruch mit der allgemeinen Bedeutung des Zeichens. Die Wiederholbarkeit, die also notwendig zugleich Bruch beinhaltet, ermöglicht somit zugleich Idealisierung und macht diese unmöglicht. Das ist die Lücke. Es ist die Lücke zwischen Regel und Singularität, Begriff und Ereignis. Und dieser Bruch ist notwendige Bedingung der Möglichkeit des Zeichens und in diesem Sinne erfüllt er.
Nun bezüglich Wowiks Kritik von soeren onzes Bezugnahme auf den Selbstbezug. Die Lücke ist keine ontologische, sondern diejenige zwischen allgemeinen Aussagen und Praxis. Sie ist also unsere Konstruktion. Wenn auch eine notwendige Konstruktion. Deshalb schreibt soeren onze „Doch was ich auch tue, ich warte auf die Lücke, den Bruch, das Brechen, das kein göttlicher Künstler für mich erschuf, sondern immer wieder aufs neue hervorgerufen wird, von mir.“ Die Bezugnahme von soeren onze ist damit zugleich den Bezug auf die Freiheit, die Wowik in seiner ontologischen Redeweise vergisst. Nicht die Kunst ist grundlegend der Ort der Freiheit (der Schöpfung) sonder die Praxis. Wowik steht deshalb als
theologisierender Ästhetizist dar, wo soeren onze der ethische Dekonstruktor ist. Der Mensch, sagt soeren onze, kann, entgegen der Vorstellung von Wowik, die Welt verändern und nicht nur sein Kunstwerk. Es ist übrigens leider typisch für den Ästhetizist, dass er (im Gegenteil zum Ästhetiker) leider die Kunst auf den Gedanken reduziert, wo doch die Kunst in Wirklichkeit eigenständig ist: L’art pour l’art nicht für die Lücke. Schön ist die Kunst, nicht Gedanke.
soeren onzes Bezug auf die Freiheit und die eigene Konstruktion der Lücke muss in den Selbstbezug enden. Der Beitrag steht also stilistisch ungeheuer elegant dar: In ironischer Thematisierung der Metaphysik wandelt er den Gedanken von der Lücke in einen dekonstruktivistischen und letztendlich sehr kantischen Gedanken. Zum Beweis möge der Leser das Ende seines Beitrages mit folgender wunderbarer Stelle bei Kant vergleichen:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und
zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht,
je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt:
der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt,
oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise
suchen und blos vermuthen;
ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar
mit dem Bewußtsein meiner Existenz.
(Kritik der praktischen Vernunft; Akademie-Ausgabe V, 161f.)