Dieser Artikel ist eine Antwort auf die Frage „Wo beginnt Scheinheiligkeit? Und – beginnt es damit?“, die Menachem in seinem Beitrag „Alles wie es war; ist; sein wird“ stellt.

Deine Frage finde ich richtig gestellt, allerdings denke ich nicht, dass sich die Jugend von diesem Thema ausnimmt. ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies noch immer ein wichtiges Gesprächsthema unter Menschen meines Alters ist, worüber nachgedacht wird, gesprochen wird und was immer noch betrifft. gerade in meiner Zeit des Zivildienstes mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste haben wir ein Jahr lang in den jeweiligen Ländern, in die wir entsendet wurden, uns intensiv über unsere Gedanken zum Nationalsozialismus ausgetauscht, wie Menschen zu Massenmördern werden können, über diesen unbändigen Hass Andersdenkenden und Andersgläubigen gegenüber. Und auch mit den Menschen, die ich in Tschechien getroffen habe, egal ob jung oder alt, habe ich viele Gespräche darüber geführt, wenn auch ich mich meist erst rechtfertigen musste. Doch alle diese Gespräche hatten mindestens einen konstruktiven Kern und nur selten hab ich mich Vorwürfen und Ablehnungen gegenübergestellt gesehen, die ich nicht verstehen konnte.

Ich denke allerdings, dass gerade der Schulunterricht viele Jugendliche auf eine falsche Spur der Aufarbeitung führt. Denn mein Schulunterricht wurde geführt wie diese Spiegelkampagnen: Hitler das Monster mit den Nazi-Teufeln an seiner Seite, gegen alle denkenden Menschen wie die weiße Rose, Maximilian Kölbe etc. Das verklärt den Blick darauf, dass Menschen aller Schichten, Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen teilgenommen haben an diesem Verbrechen an der Menschlichkeit. Es verklärt auch jegliche Erklärungsmuster, die nie ausreichend sind und nie endgültige Antworten liefern werden: gegen den Teufel kann man nicht kämpfen. Aber gegen Ideologien wie die des Nationalsozialismus muss man kämpfen, oder besser gesagt, man muss dem etwas entgegenhalten.

Nicht Intellekt und Denken sind das, was dem Hass entgegengehalten werden kann, sondern eine Menschlichkeit, die sich zwar aus dem Denken ergeben kann, aber nicht muss.

Scheinheiligkeit in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust sehe ich nicht nur bei Medien und Politik. Diese Scheinheiligkeit durchzieht unsere Gesellschaft genauso wie die Nazis es geschafft haben die Gesellschaft vor 60 Jahren zu unterwandern. Bequemlichkeit und eine zu geringe Bildung als Verursacher auszumachen, halte ich für falsch. Ich denke vielmehr, dass ein Begreifen dieser Schuld als die Schuld der Anderen der Fehler ist. Seit jeher begehen Menschen verbrechen an der Menschlichkeit. Auschwitz ist zum Mahnmal dieser schon im kleinen beginnenden Schuld geworden. Mahnend still steht es vor uns, immer vor unserem Auge. Aber erst, wenn wir es aktiv mahnend in unser handeln aufnehmen, ein jeder einzelne von uns, dann wird die Scheinheiligkeit ausgebremst und verliert ihre Wirkung und wird damit verschwinden.

Kommentare

Lieber Soeren, es war vielleicht nicht ganz fair von mir, die Jugend über einen Kamm zu scheren. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die jungen Leute, die darüber nicht mehr reden möchten, sehr wohl eine Schuld tatsächlich verspüren. Nicht unbedingt die des 3. Reichs, die der Menschlichkeit, wie du es sagst
Nach allem was mir ich bis heute mir zurecht lege, glaube ich, dass der Mensch eine Art Virus in sich trägt, der schlummernd , wartend in uns allen liegt. Es gibt scheinbar gesellschaftliche Umstände, die diesen Virus zu aktivieren vermag. Wir haben weder die Ursache noch ein Gegenmittel dazu gefunden.
Schuld, wenn überhaupt, liegt ersteinmal bei mir und hat nichts mit dem dritten Reich zu tun. Sie ist, nicht in Kommunikation zu treten, auf diesen Virus aufmerksam zu machen und zu sensiblisieren – was passieren kann, bricht dieser in einer Art geistigen Demenz ersteinmal aus – ist er in der Lage, ganze Völker zu vernichten. Schuld der Jugend, wenn auch diese überhaupt, ist, diesen Gesichtern des Menschseins nicht ins Anlitz schauen zu wollen, vielleicht auch noch nicht zu können, vielleicht ist auch vieles noch nicht verheilt, noch verletzt, auch bei der Jugend.
Insofern hat Schuldfrage für mich nichts mit dem dritten Reich direkt zu tun, nur an diesem wird überdeutlich, was daraus entstehen kann.
Ich finde für mich persönlich einfach nicht die Antwort, ob ich im Sog all dieser sozialen Mechnismen mit tiefster innerlich Überzeugung sagen kann, ich wäre immun gegen diesen Virus. Und ich bin unendlich dankbar, daß ich mich all diesen Fragen nur theoretisch stellen muss.
Und so schließe ich mich deinen Aufruf an, die Mahnmale der Vergangenheit, aktiv mahnend in mir handelnd aufnehmen zu wollen. Und nicht nur heute.

Da der Artikel sich auf einen Beitrag Menachems bezieht werde ich zunächst kurz auf Menachems Artikel eingehen.
Ich weiß nicht…Menachem redet von so viel Mutation, von Tätern und Mördern und Viren usw. Der „normale“ Bürger wird zum Mörder, im gesunden Menschen bricht das Virus der teuflischen Verderbtheit aus, doch noch können wir, die Gesunden, die Genesenen, die von der Geschichte geheilten uns fragen wie wir dem vorbeugen können, wie wir uns – schützen.
Nun, Menachem klagt, dass immer mehr junge Menschen sich diese Fragen nicht mehr stellen.
Genau an dieser Stelle verstehe ich seinen Artikel nicht. Was soll „die Jugend“ sich denn für Fragen stellen? Warum so viele bedeutende Personen innerhalb der NS-Systems einen hohen Bildungsgrad hatten bzw. Studiert waren? Ich kann zwar nicht für die gesamte Jugend sprechen, ich selbst jedoch bin etwas ratlos und überfordert, ich will mich jetzt natürlich nicht hinter meinem, zweifelsohne, gewaltigen Intellekt verstecken aber der Satz, „weil sie ja angeblich nicht mit dabei waren…“ klingt schon etwas eigenartig. Sollte ich annehmen dass ich dabei gewesen war? Und selbst wenn? Was folgt daraus?
Man sollte aufhören in die Vergangenheit reisen zu wollen, sich schuldig für dies und schuldig für das fühlen zu wollen, was schert mich die Erinnerung an Geschichte wenn ich Geschichte schreiben kann? Warum sollte die Jugend Werkzeug sein wollen, wenn sie Meister sein kann? Die Lehre die man aus der Geschichten und den Geschichtchen ziehen würde, wäre nicht, dass eine Sache besser sei als die andere, sondern dass eine Notwendigkeit besteht zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, d.h. zur rechten Zeit der rechten Sache zu dienen oder sie zu beherrschen. Diejenigen die dem Nationalsozialismus dienten schätzten diesen doch nicht geringer als du heute die Demokratie oder die Menschlichkeit. Alles ist gut wenn es siegt, dass das eine über das andere siegt, das andere dem einen unterliegt, war schwer vorauszusehen. Es wäre falsch den Nationalsozialisten den Vorwurf zu machen sie hätten der schlechten Sache gut gedient, man könnte ihnen eher Vorwerfen ihr Dienst war zu schlecht für die Güte ihrer Sache, sie vermochten ihre Idee nicht am Leben zu erhalten. Nicht die Idee heiligt den Sieg, sondern der Sieg die Idee. Demokratie ist nicht an-sich besser als eine Diktatur, ihre Güte ergibt sich aus der Qualität ihrer Bediensteten, sprich aus dem Vermögen ihrer Anhänger sie gegen die Götzen anderer Anhänger zu behaupten.
Scheinheiligkeit beginnt mit Soerens Überschrift. Heilig scheint die Menschlichkeit, ihr Schein sei geheiligt. Menschlichkeit ist ohnehin ein moralisch durch und durchtränkter Begriff.
Ist der Verbrecher gegen die Menschlichkeit ein Unmensch so wie der Brecher eines Gesetzes ein Ungesetzlicher ist, der Verbrecher gegen die Gesellschaft ein Asozialer usw.? Wozu der Begriff der Menschlichkeit? Menschlichkeit ist in diesem Sinne doch scheinbar nur ein weiteres Ideal der Moral, es sei denn das Eigentliche, das eigentlich Menschliche des Menschens wäre seine Fähigkeit „gut“ zu handeln. Menschlichkeit ist in eurem Verständnis nichts mehr was den Menschen beschreibt, sondern was die Menschen befiehlt. Statt festzustellen, „du bist ein Mörder und du bist ein Mensch“ und ein anderes mal, „du bist ein Lebensretter und du bist ein Mensch“, und somit das, was als das Beste und das, was gemeinhin als das Schlechteste erachtet wird zu verbinden, nämlich unter dem Begriff des Menschlichen, der Menschlichkeit, wird der Mensch gespalten, gut und Böse werden abstrakt, eine schizophrene Moral. Natürlich schimpft man Mörder und Verbrecher Unmenschen, denn bei aller Empathie für das Opfer, wer steckte schon gerne in der Haut eines Mörders. Hitler als Menschen zu akzeptieren, hieße ihn als Mit-Menschen anzuerkennen, hieße sich einzugestehen: Ich könnte, was er konnte, ich würde wenn ich dürfte, ich dürfte wenn ich könnte und ich könnte wenn ich wollte doch – ich will nicht.

„Gerade in meiner Zeit des Zivildienstes mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste…“
Solche Dienste neigen dazu ihr Verdienst zu überschätzen, ich war mal mit der Kriegsgräberfürsorge verreist und die waren auch davon überzeugt zur Erhaltung des Friedens in Europa sei ihre Arbeit unverzichtbar.

„…wie Menschen zu Massenmördern werden können, über diesen unbändigen Hass Andersdenkenden und Andersgläubigen gegenüber.“ Da muss ich auch widersprechen. Diesen „unbändigen Hass“ gab es zumeist nicht, zumindest nicht bei denjenigen die die Morde tatsächlich ausführten, es herrschte eine Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern vor. Ähnlich wie beim Henker, der hasst seine Opfer für gewöhnlich auch nicht, für ihn ist es einfach Arbeit.

„Ich denke allerdings, dass gerade der Schulunterricht viele Jugendliche auf eine falsche Spur der Aufarbeitung führt.“ Da stimme ich voll und ganz zu.

„Aber gegen Ideologien wie die des Nationalsozialismus muss man kämpfen, oder besser gesagt, man muss dem etwas entgegenhalten.“ Nicht weil es Nationalsozialismus ist, nicht weil es eine Ideologie ist, sondern weil es eine abstrakte Autorität ist.

„Nicht Intellekt und Denken sind das, was dem Hass entgegengehalten werden kann, sondern eine Menschlichkeit, die sich zwar aus dem Denken ergeben kann, aber nicht muss.“ An dieser Stelle wäre es lohnenswert die Diskussion weiterzuführen, denn du übergehst eine wichtige Frage. Wenn sich die „Menschlichkeit“ nicht notwendig aus dem Denken ergibt, wenn man also eine Wahl treffen kann, warum sollte man die Menschlichkeit der Unmenschlichkeit vorziehen?

„Seit jeher begehen Menschen verbrechen an der Menschlichkeit. Auschwitz ist zum Mahnmal dieser schon im kleinen beginnenden Schuld geworden.“ Ist der Sündenfall des Menschen seine Menschlichkeit?

Hallo Wowik, da ich sehr viel unterwegs war, kann ich erst heute antworten, was mir wichtig ist. Ich kann nicht mangelnde Kommunikation anklagen, und dann selbst passiv bleiben.

Nun können wir ja in allen Ansichten unterschiedlicher Meinung sein, was zwingend ist, um zu einer Diskussion zu kommen. Indem wo wir uns einig sind, kann es ausser einem netten Nicken und Schulterklopfen zu keinen anderen Sichtweisen kommen.

Für mich gibt es in dieser Diskussion zwei Varianten. Die eine ist, einen Standpunkt zu vertreten und diesen dem Anderen als die allein gültige und richtige Wahrheit überstülpen zu wollen. (Vielleicht ist das auch meine Art, was meine Erklärung für deinen obigen Kommentar wäre, den ich persönlich als engagierte Verteidigung eines scheinbar dilettantischen Angriffes von mir empfinde.)
Die zweite Variante ist der Versuch zu erfahren, was alles hat zum Einnehmen des Standpunktes des Anderen geführt – denn letztlich präsentieren wir auch nur Endpunkte eines längeren Gedankenprozeßes, ohne unseren Weg dorthin dem anderen aufzuzeigen. Ich nenne es Empathie, und weiß jetzt auch nicht, ob dies als ein moralisch durch und durchtränkter Begriff von dir gesehen wird, wie du es nennst, ohne annähernd zu wissen, was du unter Moral verstehst.

So möchte ich auch nicht auf die vielen Fragen, die du stellst und auch gleichzeitig die Antwort gibst eingehen – weil ich hier absolut nicht das Empfinden habe, dass wir im Moment einen verständlichen Draht zueinander haben. Ich meine damit nicht die Standpunkte – sondern wie wir darüber diskutieren und dem anderen die Chance und den Platz für Eigenes einräumen.

Dein Hinweis zu deinem gewaltigen Intellekt, den ich nicht als understatement auffasse, und deine Negation zur Menschlichkeit lässt einfach nicht den Gedanken aus meinem Kopf:
Ist das für Intelligente in Ordnung, wir Fourniret, der ja seiner Intelligenz gerühmt wird und zur Zeit in Frankreich wegen noch ungezählter Mädchenmorde vor Gericht steht, meine 13-jährige Tochter zu vergewaltigen und zu töten, nur weil ihm heute danach ist? Ist das ein Standpunkt von dir?

Das mir solche Gedanken aus der Art unseres Austausches durch den Kopf gehen, das ist das, war mir besonders zu schaffen macht. Ich weiß nicht warum, weiß aber, dass vor jeder sachlichen Auseinandersetzung es erst der richtigen Wellenlänge bedarf. Und vielleicht erfahre ich ja aus der Klärung dieser, das wirklich Wichtige für mich dabei.

Habe eine interessante Passage in „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann gefunden, die nicht ganz unpassend ist:

„Einmal mehr ward ich bei dieser Gelegenheit gewahr, wie gering mein Glaube ist an die übermäßige Echtheit menschlicher Empfindungen, aus welchen die Menschen zu handeln vorgeben. Nicht aus sich selbst handeln sie, sondern nach Maßgabe einer Situation, die ihnen ein bestimmtes, conventionelles Verhaltenscliché an die Hand gibt. Ist es Grausamkeit, wozu die Situation Erlaubnis gibt – desto besser. Unbedenklich und gründlich nutzen sie diese Erlaubnis aus, machen so ausgiebig Gebrauch von mir, daß man nicht zweifeln kann: die meisten Menschen warten nur darauf, daß endlich einmal die Umstände ihnen Roheit und Grausamkeit freigeben und ihnen gestatten, nach Herzenslust brutal zu sein.“

Hallo Menachem,
der Behauptung dass sich die Problematik des im Dunkeln liegenden Weges welcher uns zu bestimmten Ansichten geführt hat, durch eine Diskussion lösen ließe, würde ich zustimmen.
Ein Grund warum eine Antwort so lange hat auf sich warten lassen ist der nächste Punkt deines Kommentars.
„…dass wir im Moment einen verständlichen Draht zueinander haben. Ich meine damit nicht die Standpunkte – sondern wie wir darüber diskutieren und dem anderen die Chance und den Platz für Eigenes einräumen.“
Ich weiß nicht genau wie ich das verstehen soll, bzw. was genau du damit sagen wolltest. Sollte es an meinen „würzigen“ Stil liegen, bitte ich dies zu entschuldigen, obzwar ich davon ausging dass du als „Stammleser“ an jenen Ton gewohnt wärest. Mein Kommentar sollte ja kein Rundumschlag werden (Freilich, das auch, aber nicht nur) sondern aufzeigen dass du eine Menge moralisch und anderweitig besetzte Worte verwendest wobei du davon ausgehst dass diese sich von selbst verstünden. Natürlich weiß ich wenn du von Tätern sprichst, wen du damit meinst, nämlich nicht diejenigen die etwas Beliebiges tun sondern diejenigen die ein Verbrechen begehen. Ein Verbrechen setzt so etwas wie Recht voraus, hier beginnt die Diskussion wieder interessant zu werden. Denn welches Recht legst du für dein Urteil zugrunde und wie legitimierst dieses Recht. Bei dieser Frage wären wir dann bei Soeren angekommen, der zu allem Übel auch noch die „Menschlichkeit“ in den moralischen Begriffstopf schmeißt.
Nachdem ich nicht eindeutig herausfinden konnte was Understatement bedeutet: Das mit dem gewaltigen Intellekt war selbstverständlich ein kühle, nüchterne und völlig zutreffende Selbsteinschätzung (ACHTUNG: Ironie). Schriftlich sind solche Bemerkungen schwierig einzuordnen deshalb sollte man eigentlich darauf verzichten, so ganz kann ich es jedoch nicht lassen.
Bevor ich mich deinem konkreten Beispiel zuwende noch etwas zur Diskussionskultur. Du sagtest: „…sondern wie wir darüber diskutieren und dem anderen die Chance und den Platz für Eigenes einräumen.“
Das halte ich persönlich für unnötig, denn woher soll man wissen wie viel „Platz“ der Gesprächspartner benötigt? Würde man ihm zu wenig einräumen so fühlte er sich beengt, würde man ihm mehr einräumen als er auszufüllen vermag wäre das doch die reinste Platzverschwendung. Mein Gegenvorschlag: Jeder nimmt sich seinen Anteil, den Platz den er sich Verschaffen kann soll er sich nach seinen Kräften verschaffen und wer sich kein Platz verschafft – muss schweigen.

„Ist das für Intelligente in Ordnung, wenn Fourniret, der ja seiner Intelligenz gerühmt wird und zur Zeit in Frankreich wegen noch ungezählter Mädchenmorde vor Gericht steht, meine 13-jährige Tochter zu vergewaltigen und zu töten, nur weil ihm heute danach ist? Ist das ein Standpunkt von dir?“

Eine interessante Frage in einer Konkretheit gestellt der ich stets versuchen würde aus dem Weg zu gehen.
Was ist Empathie? Man könnte auf den ersten Blick sagen es sei Eindenken. Eindenken in einen anderen Menschen. Wobei mir das etwas zu fadenscheinig ist, denn wenn ich jemanden sehe der beispielsweise Schmerzen hat, nehme ich das ja nur äußerlich wahr. Eindenken wäre also eher etwas wie Einfühlen. Einfühlen würde aber bedeuten, dass ich in dem Moment indem ein anderer Schmerzen fühlt ich selbst Schmerzen fühle, man könnte also fast schon von einem Du-Bewusstsein oder zumindest von einem Du-Sein sprechen was dazu nötig wäre. (Zu dieser Problematik habe ich eine Hausarbeit geschrieben, die werde ich demnächst hier veröffentlichen) Ein Du-Sein des Ichs würde aber folgendes Bedeuten: Ich bin Du. Das klingt widersprüchlich.
Plausibler wäre es Empathie als Ausdenken zu verstehen. Ich denke mir aus was ich in dieser oder jener Situation empfände. Es wird also nicht versucht die Gestalt des Dus anzunehmen, sich in das Du „einzufühlen“ um sich in eine bestimmte Situation die diesem Du widerfahren ist, hineinzuversetzen, sondern ich übertrage durch Abstraktion (denken) die Umstände der Situation auf mich selbst. Ich konstruiere die abstrakten Umstände der Situation (z.B. eines Mordes) um das konkret Ich-Seiende.
Mir ist klar dass diese Minigrundlegung leicht umgeworfen werden kann, jedoch dürfte sie zur Beantwortung deine Frage hinreichend sein.
Du nimmst also die Situation eines Kindermordes, Mörder und Opfer seien dabei zwei Variablen, und denkst sie aus. Gemeinhin ist das Geschrei in den Medien groß, Kindermord, Babymord usw. Auch ist man eher bereit Mitgefühl, Mitleid oder gar Sympathie für das Opfer zu empfinden als für den Täter. Ich vermute bei dir ist das nicht anders? Dir tut es eher um eines der Ermordeten Mädchen leid als um den vor Gericht stehenden Täter, in dem von dir angesprochenem Falle Fourniret?
Die wirklich interessante Frage ist warum man das gerade so und nicht anders mit dem Mitgefühl hält, denn um den obigen Gedanken konsequent zu ende zu denken: Du hättest als erwachsener Mann eher Grund dich mit dem Täter zu solidarisieren bzw. mit ihm „mitzufühlen“ als mit seinen Opfern, denn die Wahrscheinlichkeit dass du einem Kindermörder zum Opfer fällst ist wesentlich geringer als die Wahrscheinlichkeit das du selbst einmal ein Kind ermordest. Bei einem gewöhnlichen Mord sieht die Sache nicht viel anders aus, die Möglichkeit dass du ein Mörder wirst ist ebenso gegeben wie die Möglichkeit das Opfer eines Mordes zu werden, ohne Mörder kein Opfer. Natürlich, die Situation des Opfers und die Situation des Täters sind auf sich selbst übertragen zwei unschöne Szenarien, allerdings scheint man sich in der Opferrolle wohler zu fühlen. Wer mag von sich schon gerne denken er sei ein Mörder? Beide Situationen auszudenken bedeutet den Gedanken der Empathie zu Ende zu denken. Ich bestreite nicht, dass wenn Fourniret deine Tochter vergewaltigen würde, du allen Grund hättest sauer zu sein, ihn zu hassen und danach zu Handeln. Jemanden der davon nicht betroffen ist, hätte jedoch keine guten Gründe Partei für das Opfer zu ergreifen. Allerdings wäre dir bei deinem Verfahren mit dem Mörder kein Lynchmord anzuempfehlen, denn dass du einmal Opfer eines Verbrechens geworden bist, bzw. deine Tochter Opfer geworden ist, was dich sozusagen zu einem indirekten Opfer, zu einem Mit-Opfer macht, bedeutet nicht dass du kein Täter mehr werden kannst. Somit wäre auch der Vorwurf dass dies eine Legitimation der Lynchjustiz wäre, auf eine gewisse Art ist es das zwar, ausgehebelt, denn niemand würde einen Mörder am Baum aufhängen wenn er sich klar geworden ist, dass er der Nächste sein könnte.
Soviel zur Theorie.

@ people in motion

Ja, das passt…irgendwie. Die Textpassage unterstellt ja schon ein schlechtes Menschenbild. Ich für meinen Teil würde auf keinen Fall soweit gehen und etwas wie ein „gutes“ oder „schlechtes“ Menschenbild annehmen, deshalb wehre ich mich ja auch gegen diese ganze Viren und Fremdkörpermetaphorik.
Wenn ich es so überlege…eigentlich bin ich der letzte Humanist.

Hallo, Wowik, ich bin mir recht sicher, daß sowohl in deinen als auch in meinen Gedanken Richtiges liegt. Ob wir die Schnittmenge finden? Ich hoffe, daß wir noch in vielen Beiträgen hier Gelegenheit haben werden, das herauszufinden. Jedenfalls, ich freu mich drauf.
Und wieso letzte Humanist? Eigenltich wollte ich das doch werden:)).