Ich besuche dieses Semester ein Seminar zu Hegels Rechtsphilosophie und versuche gerade herauszufinden, was er denn unter Sittlichkeit versteht. Durch Passagen wie die folgende erschwert sich dieses Unterfangen, merke ich doch, dass ich einfach nicht weiß, worüber der gute Mann da spricht:

Die Ehe enthält, als das unmittelbare sittliche Verhältnis, erstens das Moment der natürlichen Lebendigkeit, und zwar als substantielles Verhältnis die Lebendigkeit in ihrer Totalität, nämlich als Wirklichkeit der Gattung und deren Prozeß.

Er mag ja Recht haben und notwendige Argumente dafür anführen können, dass wir immer im Alten etwas Neues entwickeln und somit ein Schritt aus dem was ist nicht möglich ist, bzw. jegliche Argumente ohne Fundament sind, die ohne das Gewordene auskommen wollen. Aber warum gerade die Ehe als das sittliche Verhältnis? Da lässt sich doch auf ebenso Vorhandenes rekurieren und zeigen, dass Ehe empirisch wohl kaum die „rechtlich sittliche Liebe“ ist, die er hier zur Grundlage für oben stehendes Zitat nimmt. Was also führt er ins Feld um eben dieses Verhältnis ohne Bruch der Zeit als Ehe bezeichnen zu können.

Auch die folgenden Seiten lassen mich da im Dunklen und sowas regt mich ja auf, weiß ich doch nie ob ich einfach die Genialität nicht nachvollziehen kann oder wieder mal ein großer Mann versucht seine persönlichen Ansichten und Meinungen nonchalant in eine ansonsten kohärente Argumentation einzuweben und sie so notwendig erscheinen zu lassen. Das ist nämlich eine Vermutung, die mich nach zwei Jahren Philosophiestudium zusehens ereilt. In großen Büchern findet sich auch immer großer Bockmist und große Namen, selbst in der Geistesgeschichte schützen nicht vor kleinlich rückständigen Ansichten im Hinblick auf das Verehrte, Geliebte und das, was man glaubt nicht loslassen zu können. Aber ich kann mich irren, ist ja auch nur son Gefühl. Jedenfalls werde ich das ganze Kapitel nochmal lesen müssen, um morgen im Seminar nicht nur auf diesen Punkt fixiert zu sein.

Ach ja, könnte mir vielleicht ein Hegelianer kurz darlegen, was G.W.F. sich dabei gedacht hat gerade die Ehe ganz nah an das Honigfässchen der Sittlichkeit zu stellen und mir so meine mich beschäftigenden und ablenkenden Einwürfe entkräftigen? Würde sehr helfen gerade!

Kommentare

Ich bin kein Hegelianer oder Hegelexperte, deshalb werde ich auch keine vollstaendige Deutung liefern koennen. Allerdings meine ich, dass man hier Hegels unterscheidung von Sittlichkeit und Moralitaet beachten muss. Die Ehe ist (ihm) nicht einfach irgendein Verhaeltnis, weder ein rein physisch, leidenschaftliches, noch bloss von der buergerlichen Moralitaet gepraegtes, noch eines der reinen (romantischen) Liebe (dazu siehe auch den Zusatz). Sie enthaelt vielmehr all diese Momente und ist damit doch noch nicht erfuellt – sie ist als Ganzes mehr als die Summe ihrer Momente. Dass die Ehe nicht (zufaelliges) Verhaeltnis sondern (fuer Hegel) „notwendige“ Institution ist (vermutlich), ist es, was ihre „Sittlichkeit“ ausmacht. – Die Sittlichkeit verwirklicht sich (bei Hegel) erst im Staat und nach Hegel ist es ja quasi die „Bestimmung“ des Menschen (als sittliches Wesen) im Staate zu leben. Der im Staate lebende Mensch ist praktisch die einzelne Erscheinung der verwirklichten Sittlichkeit. – so ungefaehr jedenfalls …

Mit der Vokabel „rueckstaendig“ waere ich vorsichtig – dazu waere erst zu pruefen, ob man H. auch in Bezug auf seine eigene – und nicht auf unsere – Zeit mit Recht als rueckstaendig ansehen darf – was freilich nicht auszuschliessen ist.

Ich danke dir für den Kommentar Roger! Dennoch meine weiterhin offenen Fragen: Ich verstehe, dass die Familie Hegel als notwendiges sittliches Verhältnis ereicht, das in den Staat eintritt und den Menschen sittlich formt, um ein guter Staatsbürger zu werden. Aber der Begriff Familie ist nicht so eingeengt, wie es der Begriff der Ehe ist. Warum gerade im Verhältnis zwischen Mann udn Frau dieses sittliche Verhältnis gefunden wird, erscheint mir eben nicht notwendig. Warum nicht eben auch zwischen Mann und Mann, die eine Familie gründen, zwischen Freunden, die in einer WG zusammenleben? Ich verstehe die Gründe Hegels die Sittlichkeit nicht beim Einzelnen zu suchen, aber warum gerade dann die Ehe?

Rückständig erscheint mir der Gedanke, die Ehe als sittliches Verhältnis zu denken, nicht, weil die Ehe nicht sittliches Verhältnis sein könnte, sondern, weile s mir scheint, als löst hier Hegel seine eigenen Forderungen nicht ein. Schimpft er noch ind er Einleitung und dem Vorwort auf die Philosophen, die meinen, sich in jeder Kleinigkeit zu Wort melden zu müssen und so eben nicht das so wichtige Verhältnis zwischen Algemeinem und Konkretem begriffen zu haben, eng er seine Philosophie an genau diesem Punkt so ein,d ass sie nur noch konkret gedacht und geprüft werden aknn. Er fällt also hinter seinen eigenen Anspruch zurück.

Aber wie gesagt, so erscheint es mir bis jetzt, vielleicht löst sich das alles noch auf, vor allem, da ich das Moralitätskapitel noch nicht gelesen habe.

Vielleicht bin ich da etwas voreilig – aber ich nehme an, dass das Verhaeltnis zwischen Mann und Frau bei ihm hoechtens ein moralisches, nicht aber ein sittliches sein koennte. Und zwar weil ein solches Verhaeltnis „zufaelligen“ Charakter hat. Es ist ein moegliches Verhaeltnis, das aber erst auf der Basis der notwendigen (darum sittlichen) Institution der Ehe entstehen kann – wobei das Geschlechts- und Fortpflanzungsverhaeltnis ja nur ein Moment der Ehe (als einer sittlichen[!] Institution) ist. Aber es ist wie alle anderen Momente der Ehe auch ein notwendiges. Eine Ehe die zwar formal geschlossen worden waere, aber nicht alle ihre Momente enthielte, waere „unwahr“ – sie wuerde nicht ihrem „Begriff“ entsprechen. Darueber mag man denken, wie man will aber auch ein Homosexueller muss (von einer Frau) geboren worden sein. Also einem hetereosexuellen Verhaeltnis enspringen. Es gibt keine Homosexualitaet ohne Heterosexualitaet (jedenfalls nicht, solange kein perfektes klonen moeglich ist), waehrend es unter der Bedingung notwendiger Homosexualitaet weder das eine noch das andere gaebe. Eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft wuerde niemals alle Momente vollsatendig enthalten (koennen), die die „Ehe“ fuer Hegel zur „sittlichen“ Institution machen, das scheint mir der springende Punkt zu sein. Ein moralisches Urteil ist damit nicht gesprochen.
😉

Hallo,
ich quäle mich momentan in einem Seminar auch durch ein Bruchstück Hegels, das in meinen Händen zusehends abgeschmackter daherkommt, aber zumindest Versatzstücke kann ich vielleicht beisteuern: die Familie kommt bei Hegel quasi an erster Stelle seines Gangs durch den Prozess der Sittlichkeit. Sittlichkeit grenzt er dabei auf der einen Seite von der Moral ab, die mehr oder minder subjektiv bleibt und dem Recht, das er als objektiv versteht. Intersubjektivität, die bei Hegel zumindest in der Frankfurter Lesart der ewig Redenden wichtigstes und ursprüngliches Moment ist, kommt in der Sittlichkeit zum Tragen. Das ist sogar mit dem klassischen Sprachgebrauch des Wortes Sitte verträglich.
Des Weiteren gibt es aber eben verschiedene Dimensionen oder Stufen der Sittlichkeit. Eine natürliche und eine absolute Sittlichkeit. Die Familie stellt ebenso wie die Anerkennungsverhältnisse von Eigentümern als Rechtspersonen aber nur die natürliche Sittlichkeit dar. Die absolute Sittlichkeit wird erst in der Sphäre des Staates erreicht, diese bezeichnet er als Solidarität. Also zeichnet er einen Dreischritt von der Familie, über die bürgerliche Gesellschaft hin zum Staat nach. Damit einhergehend vollzieht sich ein Gang der Sittlichkeit hin zu einem Zustand absoluter Sittlichkeit. Gewichtig bleibt also nicht nur das Moment der Bewegung, sondern auch und gerade der „Anfang“ (vom Anfang zu sprechen scheint bei Hegel immer falsch, da jeder Anfang noch Voraussetzungen hat…): im Anfang ist bereits Intersubjektivität in einer urtümlichen, „natürlichen“, „unmittelbaren“ Form.
Die Ehe muss er in seinem eigenen Gedankengang daher so exponieren, weil die natürliche Sittlichkeit sich „entäußern“ (bin mir unsiche rmit dem Wort an dieser Stelle) können muss. So wie Natur bei Hegel nur eine Entäußerung des Geistes ist, ist die Ehe sich nur dann als sittliches Verhältnis, als Liebe erkenntlich, wenn sie ein Kind zur Welt bringt. Das Kind ist der Ausdruck der Liebe zwischen Mann und Frau.

Natürlichkeit und Unmittelbarkeit scheinen mir bei Hegel immer anzuzeigen, dass es darüber Hinausgehendes gibt. Der Prozess lässt diese Natürlichkeit gerade hinter sich, gleichwohl er diese einschließt. Damit würde er also weniger ein normatives Urteil fällen, als vielmehr eine Analyse liefern. Natürlichkeit ist dann gerade kein naives Schließen vom Sein auf’s Sollen. Aber er zeichnet vielleicht dennoch einen Gang nach: vom Sein zum Sollen. Von der Liebe für den einen Partner zur Solidarität eines Staatsgefüges.

Ich muss aber gleich hinterherschicken, dass meine Ausführungen aus den Schriften vor der Phänomenologie und dieser selbst „inspiriert“ sind (bzw. auch da „natürlich“ nur aus kleineren Teilen), bzw. diese wiederzugeben versuchen. Es kann also gut sein, dass in der späteren Philosophie davon abgewichen wird. Mir hat dabei Honneths „Kampf um Anerkennung“ gut weitergeholfen. 33ff. und 44ff. (1992) fassen die Schrittfolge von Familie zum Staat zusammen.

Ich danke euch beiden, werde in beide Bücher mal reinlesen und durch deine Ausführung Nick ist es etwas klarer geworden, auch wenn mir irgendetwas immer noch misshagt. Aber wnen man deiner Lesart folgt, dann ist das „Sittliche“ der Ehe eher die Notwendigeit für einen Staat neue Bürger, sprich Kinder, zu bekommen. Aber man kann doch nicht nur in der Ehe Kinder bekommen! Ist also das Kinderbekommen das Sittliche in der Ehe oder die Liebe, die sich im Kind zusammenschließt? Dem zweiten könnte ich ohne Probleme zustimmen, diese Notwendigkeit ist nicht zu leugnen, aber die Ehe scheint mir dennoch einen Schritt zu weit, der nicht mehr notwendig ist.

Ist nicht direkt zur problematik der Ehe aber gibt einen guten Überblick zur Konstellation von Selbstbewusstsein, Freiheit und Willen bzw. Sittlichkeit, Moralität und Recht: Michael Quante: Die Persönlichkeit des Willens als Prinzip des abstrakten Rechts. In Klassiker Auslegen vom Akademieverlag, herausgegeben von Siep.